Leseprobe Mia und der Fluch

Das Tor war geschlossen. Obwohl Mia wusste, dass es sinnlos war, rüttelte sie an den schmiedeeisernen Stäben. Vergeblich, die Torflügel blieben zu.

Die Mauer vor ihr war von Flechten und Moosen bewachsen und mindestens doppelt so hoch wie sie selbst. Die würde sie nicht aufhalten. Kurz entschlossen nahm sie Anlauf, krallte Finger und Zehen in die Ritzen. An Efeuranken und herausragenden Steinen hielt sie sich fest und kletterte Stück für Stück hoch. Ihr Rucksack schnitt ihr in die Schultern, als das Gewicht sie nach hinten zog. Endlich ertastete sie die Kante und hievte sich mit einem Ruck nach oben.

Von hier hatte sie einen wunderbaren Ausblick auf das Gut. Es war größer als sie erwartet hatte, eigentlich eher eine Burganlage. Die wuchtigen Gebäudekomplexe wirkten fast so massiv und drohend wie die Königsburg. Sogar einen wassergefüllten Graben konnte sie erspähen. Früher mochte er sich um die Festung herum erstreckt und als Teil der Abwehr gedient haben, heute jedoch umschloss er nur noch den hinteren Teil der Gebäude, soweit sie es erkennen konnte. Gut, so musste sie diesen nicht auch noch passieren.

Sie zuckte mit den Schultern. Umso besser, wenn ihre Amma reich und mächtig war. Umso weniger würde es sie scheren, wenn sie hier auftauchte und Obdach verlangte.

Während sie sich auf der anderen Seite herunterließ, überlegte sie, dass es auch genauso gut sein könnte, dass ihre Amma genauso geizig war wie reich. Nun, sie würde es gleich merken.

Ihr Vater hatte kaum von seinem Zuhause erzählt. Irgendwann hatte Mia es aufgegeben, danach zu fragen. Ihr Leben in Jüresburg war viel zu anstrengend gewesen, um groß über die Vergangenheit nachzugrübeln. Doch jetzt wünschte sie sich, sie hätte energischer darauf bestanden.

Sie sprang das letzte Stück hinunter und landete auf weichem Gras. Eigentlich hatte sie keinen Grund, sich zu verstecken, aber dennoch hielt sie sich im Schatten der Eichen, die die Einfahrt säumten. Der Weg bestand aus tiefen Wagenspuren und einem Grasstreifen in der Mitte. Vielleicht war Amma Anna Luise doch nicht so reich, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Sonst hätte sie die Einfahrt zu ihrem Gut doch wenigstens gepflastert, um bei Regen nicht im Matsch zu versinken.

Es war niemand zu sehen. Das Hauptgebäude ragte dreistöckig vor ihr auf. Hohe Fenster wirkten wie Augen, die sie misstrauisch beobachteten, und Mia presste die Lippen zusammen. Ein kleiner Turm mit einem runden Dach wie eine Zipfelmütze milderte die Schroffheit der Fassade. Das ganze Haus hätte dringend einen Anstrich gebraucht, denn überall blätterte der Putz ab. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Putz komplett herunterzuschlagen, denn die Natursteine, aus denen das Haus geschichtet war, wirkten dort, wo sie hervorblitzten, wesentlich freundlicher als der graue Mörtel.

Mia entschied sich, den eisernen Klopfer an der Haustür nicht zu betätigen, um kein Aufsehen zu erregen. Stattdessen folgte sie einem Trampelpfad um das mächtige Haus herum und spähte um die Ecke in einen riesigen Innenhof. Der Boden bestand aus festgetretenem Lehm, an einigen Stellen wuchs Gras. Mia runzelte die Stirn. Offenbar war ihre Amma mit der Pflege des riesigen Hofguts überfordert.

Dem wuchtigen Wohnhaus gegenüber befand sich das Stallgebäude, zwar niedriger, aber dennoch doppelgeschossig mit hohem, ziegelrotem Dach. Zwei Pferde standen angebunden an einem Balken, eines davon gesattelt. Aus einer angelehnten Tür drangen Stimmen.

Mia schlug einen schnelleren Gang an und huschte über den Hof. Der Lehm fühlte sich unter ihren nackten Füßen warm an. Herrlich. Die letzten spätsommerlichen Tage waren sonnig, regelrecht heiß, was eine gute Ernte verhieß. Zumindest nahm sie das an. Vater hatte gesagt, dass Dunkerbusk ein landwirtschaftliches Gut war. Kohl, Weizen, Rüben – all das sollte hier wachsen, auch wenn Mia nicht viel davon verstand. Bestimmt gehörten die Felder und Wiesen, durch die sie hergekommen war, zum Gut.

Die beiden Pferde schnaubten, als sie dicht an ihnen vorbeischlüpfte. Mia tätschelte der weißen Stute, die ihr am nächsten stand, den Hals. »Pst«, murmelte sie. »Verrate mich nicht. Lass uns lieber hören, was die da drinnen reden.«

Sie vernahm die Stimme einer älteren Frau, deren Tonfall tief und energisch war und vor Hohn troff. »Ein Drest will bei uns arbeiten! Wer sagt mir denn, dass du nicht allen Pferden die Sehnen aufschlitzt, den Brunnen vergiftest oder unsere Scheune anzündest? Hm?«

»All das könnte ich auch tun, ohne bei Ihnen zu arbeiten.« Diese Stimme gehörte einem Mann, allem Anschein nach einem sehr viel jüngeren. Neugierig beugte sich Mia vor und linste durch das trübe, von Spinnweben verzierte Fensterglas. Schemenhaft sah sie den Jungen, der mit dem Rücken zu ihr stand. Die Hände hielt er hinter dem Körper gekreuzt, einen Hut umklammernd. Die andere Person verdeckte er.

»Ich muss es euch Dorfleuten ja nicht einfacher machen, als es sowieso schon ist.« Die alte Frau gab einen knurrenden Laut von sich, sodass Mia zusammenfuhr. Auch der junge Mann trat einen Schritt zurück.

»Bitte, glauben Sie mir, ich habe nichts Derartiges im Sinn. Ich gehöre nicht zu den Wintersteins und auch nicht zu den Löwes. Meine Familie ist neutral, wie Sie wissen.«

»Das ist es ja. Die Familie Drest mag sich neutral verhalten, ist aber trotzdem gegen uns. Es ist mir unbegreiflich, warum du ausgerechnet für uns arbeiten willst.«

Mia reckte den Kopf und versuchte, einen Blick auf die Frau zu erhaschen. Kurz sah sie einen grauen Haarschopf, dann verdeckte der junge Mann wieder ihre Sicht. Immerhin hatte die Alte den arbeitssuchenden Jüngling noch nicht hinausgeworfen. War das ihre Amma? Oder eine ihrer Großtanten, die laut Vater ebenfalls hier wohnten? Nein, es musste Amma sein. Sie war die Älteste und hatte das Zepter in der Hand, wie Vater immer bemerkt hatte. Bei seinen seltenen Erzählungen über das Gut hatte meist ein bitterer Unterton mitgeschwungen.

Der Tonfall des Jungen wurde rau. »Ja, also … meine Familie … sie …« Er geriet ins Stocken.

»Du hast dich mit deinen Leuten überworfen und hoffst, hier dein Auskommen zu finden.« Ihre Stimme klang wieder spöttisch. »Naiver Junge. Hast du noch nicht gelernt, dass deine Familie ewig an dir kleben bleibt? Du magst wütend sein, sie verfluchen, aber sie bleiben nun mal deine Angehörigen, da kannst du machen, was du willst. Ganz besonders in diesem Dorf. Was haben sie dir angetan, dass du diese Schmach auf dich nimmst, hier um Arbeit zu betteln?«

»Ich bettle nicht!«, fuhr er auf. »Ich habe Ihnen durchaus etwas anzubieten. Ich bin im zweiten Lehrjahr zum Schmied und kann wahrscheinlich besser mit Pferden umgehen als Herr Eric. Und was zwischen mir und meiner Familie vorgefallen ist, das behalte ich für mich. Das geht Sie nichts an. Wenn Sie mir keine Arbeit geben, gehe ich zu den Löwes.«

»Ha! Die Löwes werden dich wohl kaum aufnehmen. Die sind doch selbst alle Schmiede und brauchen dich nicht. Es wundert mich sowieso, dass ihr Drests euch als Schmied versucht. Nun gut.« Sie schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Ich werde dir Arbeit geben. Aber du musst dich zunächst beweisen. Ich kann dich vorerst nicht zu unseren Pferden lassen, dafür sind sie zu kostbar. Du wirst als Schafhirte draußen auf den Wiesen arbeiten. Bis zum Winter. Bis dahin wird sich herausstellen, ob du es ernst meinst oder ob das ein Trick ist, sich hier einzuschleichen und Unruhe zu stiften. Wenn du damit einverstanden bist, kannst du gleich anfangen.«

Stille. Der Junge verharrte etliche Momente, bis er gepresst antwortete: »Na schön. Einverstanden. Ich hüte Ihre Schafe bis zum Winter.«

Die alte Dame beugte sich vor. Jetzt konnte Mia ihr Gesicht erkennen. Tiefe Falten furchten sich von Nase zu Mund, aber ihre blauen Augen leuchteten lebendig. Die grauen Haare waren am Hinterkopf zu einem dicken Dutt gebändigt. Sie nickte. »Du bekommst 15 Sterlinge die Woche. In der Küche kannst du dir dein Essen holen. Du wirst nicht bei uns essen, das würden die anderen nicht dulden, zumindest nicht am Anfang. Im Winter mag sich das ändern.«

»Keine Sorge«, brummte er. »Das ist mir auch lieber so.«

Sie beachtete seinen Einwurf nicht. »Schlafen kannst du in der alten Waldhütte am Fuße der Bergweide. Kennst du sie?«

»Ja.«

»Richte dich ein, wie du möchtest. Das interessiert mich nicht. Felle für die Schlafstatt holst du dir von Eric aus dem Stall. Von der Milch der Muttertiere nimmst du, was du brauchst, den Rest lieferst du ab. Sonst noch Fragen?«

»Nein.«

»Dann geh. Die Schafe sind auf der Weide. Kristin wird froh sein, dass sie sich nicht mehr kümmern muss.«

Mia zog den Kopf zurück. Gleich würde der Junge herauskommen. Sie richtete sich auf, reckte das Kinn nach oben.

Mit langen Schritten durchquerte er den Raum, schob die Tür auf und trat auf den Hof. Er stutzte kurz, als er sie dort stehen sah, verlor aber kein Wort. Stattdessen nickte er ihr kurz zu und verließ den Innenhof zur anderen Seite.