Leseprobe „Ophelias Erbe“
Wie schafft man es, mit seinem Freund Schluss zu machen, ohne dass es ein großes Theater gibt?
Unaufhörlich kreisten diese Gedanken in meinem Gehirn, und ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. Jede Unebenheit des Bodens drückte mich enger gegen Alex’ Rücken, der vor mir auf dem Motorrad saß und keine Ahnung hatte, dass meine Abneigung gegen ihn stieg, je mehr ich mich an ihn klammern musste.
Es ging nicht mehr, ich wollte ihn loswerden. Am besten noch heute Abend. Bevor ich womöglich wieder einen Rückzieher machen würde, denn … es war ja so bequem mit Alex.
Wir waren auf dem Weg zu einer Studentenparty. Ich hatte keine Ahnung, in wessen Haus gefeiert wurde, aber der Gastgeber musste ein Sohn wohlhabender Eltern sein. Alex kannte ihn von früher, beziehungsweise sein Vater kannte den Vater des Studenten oder so ähnlich. Er hatte mir die genauen Umstände erzählt, aber es war mir nicht wichtig genug gewesen, als dass ich es mir gemerkt hätte.
„Komm, Ginger, lass uns schauen, wo es was zu trinken gibt“, sagte Alex und packte meinen Arm, um mir vom Motorrad zu helfen. Es fühlte sich an, als zöge er mich herunter. Er grinste mich mit seinen perfekten weißen Zähnen an und zerrte mich hinter sich her. Als wäre ich ein Hündchen an der Leine, folgte ich ihm nach allen Seiten lächelnd.
Alex fiel auf, wenn er irgendwohin kam. Zum einen war er natürlich ein gutaussehender Typ, mit seinem blondgesträhnten Haar, der braungebrannten Haut und dem lässig aufgeknöpften Designerhemd. Zum anderen war es sein Auftreten. Wenn er einen Raum betrat, füllte er ihn unverzüglich mit seiner Persönlichkeit. Dass alle die Augen bei seinem Anblick senkten und demütig die Köpfe zur Seite wandten, hatte mich früher beeindruckt. Aber mittlerweile nervte es nur noch. Natürlich lag es auch an seiner berühmt-berüchtigten Familie, dass alle Respekt vor ihm hatten. Smith Electronic war ein Familienbetrieb, und alle Männer der Familie waren einflussreich und vielbeachtet. Sein Vater führte die Firma mit eiserner Hand, und sein Großvater hatte zwar schon längst das Rentenalter erreicht, lehrte aber seine Geschäftskollegen und vor allem seine Widersacher immer noch das Fürchten. Alex hatte sich viel von ihrem Gebaren abgeschaut. Wenn er die Hand hob, machten die Leute vor ihm Platz.
So auch heute. Die vielen jungen Leute wichen lächelnd vor ihm zurück und in Nullkommanichts standen wir vor der Bar. Typisch. Eine Party, ohne sich zuallererst einen Drink zu besorgen, kam für Alex nicht in Frage.
Er mixte sich einen Wodka mit Red Bull und drückte mir einen Wodka Cola in die Hand. „Nimm das. Das magst du doch so.“
Verkrampft lächelnd nahm ich ihm das Glas aus der Hand. Ich trank einen großen Schluck und spürte sofort die Mischung aus Alkohol und Zucker, die mir ins Blut schoss. Ich will dich verlassen, hämmerte es in meinem Kopf.
„Komm, jetzt suchen wir Henry.“ Wieder zog er an meinem Handgelenk. Ich sah das Grinsen in den Augen der Leute und holte tief Luft.
„Alex. Alex!“ Meine Stimme klang zwei Etagen zu hoch, aber es war mir egal. „Hör mir zu!“
„Ja?“ Unwillig drehte er sich um. Ich wusste, es störte ihn, dass ich ihn beim Abspulen seiner Routine unterbrach.
„I-ich m-möchte mich von dir t-trennen.“ Ich stammelte, und es hörte sich nicht sehr überzeugend an.
Alex runzelte die Stirn. „Was hast du gesagt?“
Die Leute um uns herum rückten in Erwartung einer grandiosen Szene näher. Es war, als würde die Lautstärke um etliche Dezibel heruntergeschraubt. Natürlich erklang immer noch das Wummern der Musik, aber für mich war es, als stünde ich plötzlich auf einer Bühne und das Publikum lauschte mucksmäuschenstill.
Ich hätte mich ohrfeigen können für meine Dummheit. War ich wahnsinnig geworden, das vor all den Leuten zu sagen? Alex würde mich für diese Demütigung umbringen, das war so gut wie sicher. Wieso hatte ich diesem Drang in mir einfach so nachgegeben?
Weil es schon so lange in mir rumorte, gab ich mir selbst die Antwort. Das rechtfertigte aber nicht, dass es eine unüberlegte Spontanaktion war, die mir jetzt schon leidtat. Aber es gab kein Zurück mehr. Ich spürte die Blicke der Studenten um mich herum und versuchte, wenigstens etwas Festigkeit in meine Stimme zu legen.
„Das mit uns … also, das wird nichts mehr.“ Ich beugte mich zu ihm vor, damit ich nicht so laut reden musste. Aber natürlich nützte es nicht viel. Diese blonde Tussi direkt hinter Alex hatte schon kugelrunde Augen. „Ich möchte mich von dir trennen.“
„Du möchtest? Du möchtest was? Melissa, bist du jetzt total verrückt geworden?“ Zwischen seinen Augenbrauen baute sich eine steile Falte auf, die Unheil versprach.
Aber plötzlich erwachte die Tigerin in mir. Wie behandelte er mich eigentlich? Zerrte mich hinter sich her wie einen Gegenstand und jetzt nahm er mich nicht einmal ernst. „Du hast genau richtig gehört“, fauchte ich und trat einen Schritt zurück. „Ich verlasse dich. Und zwar hier und jetzt.“ Ich drehte mich auf dem Absatz herum und wollte davonstolzieren.
Aber Alex wäre nicht Alex, wenn er sich so leicht abservieren ließe. „Moment mal.“ Seine Hand um meinen Arm war eisenhart. „Du bleibst schön hier, Ginger. Einen Smith verlässt man nicht einfach so, und schon gar nicht auf einer Party.“
„Ich gebe ja zu, das Timing ist schlecht. Trotzdem, Alex. Mach jetzt bitte keine Szene, die Leute gucken schon.“
„Wer macht hier eine Szene!“, zischte er. Mittlerweile waren seine Augen zu Schlitzen verengt. „Melissa, du kommst jetzt mit mir oder du wirst es bereuen!“
„Bereuen werde ich es, wenn ich das tue!“, gab ich zurück. Meine Stimme war lauter als beabsichtigt und aus den Augenwinkeln konnte ich das hämische Starren der Leute wahrnehmen. Gönnten sie Alex diese Demütigung? Oder frohlockten sie, dass ich mich hier zum Narren machte? Es war mir inzwischen egal. Ich wollte nur noch fort von ihm. Mit einem Ruck schüttelte ich seine Hand ab. „Mach’s gut, Alex. Hab ein schönes Leben!“ Mit diesen Worten drückte ich mich zwischen zwei große, dumm glotzende Typen und wollte verschwinden.
Aber ich war nicht schnell genug. Er erwischte mich an meiner Haarmähne und riss mich zurück. Ich kreischte auf, denn der Schmerz auf meiner Kopfhaut trieb mir die Tränen in die Augen.
„Du mieses Weibsstück! Was bildest du dir eigentlich ein? Du willst mich verlassen? Eher verlasse ich dich! Solche wie dich hab ich an jeder Hand zehn! Du langweilst mich schon lange, guck dich doch mal an! Das einzig Interessante an dir naivem kleinem Landei sind doch deine Haare und an denen sieht man sich auch irgendwann satt!“
Alex’ Augen glühten vor Zorn wie Kohle. Teile seines Gesichts lagen im Halbdunkel des Raumes im Schatten, und seine Fratze erinnerte mich für einen Moment an die Teufelsmaske, die er an Fastnacht getragen hatte. Er packte meine Bluse am Ausschnitt und schüttelte mich, dass mir die Zähne klapperten.
„He, Kumpel, jetzt reicht’s aber“, mischte sich einer der Typen ein, der direkt neben mir stand. „Du tust ihr weh, siehst du das nicht?“
„Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht“, schleuderte ich Alex entgegen und warf dem Typ einen kurzen dankbaren Blick zu. „Nach außen hin der geleckte Gentlemen, aber in Wirklichkeit bist du ein Riesenarschloch!“ Normalerweise benutzte ich nicht solche Wörter. Aber in diesem Moment konnte ich nicht klar denken und mich schon gar nicht gewählt ausdrücken. Meine Stimme versagte, und ich brach in Tränen aus.
„Typisch Weib!“ Alles in Alex’ Miene drückte Verachtung aus. Er fasste mich erneut am Handgelenk. „Jetzt drückst du wieder auf die Tränendrüse! Komm jetzt endlich mit, Melissa!“
„Kapierst du es nicht? Ich hab’s so satt mit dir!“, brüllte ich, riss mich endgültig los und drückte mich mit aller Kraft durch die Leute hindurch. Dieses Mal gelang mir die Flucht.