Leseprobe „Die Eistrolle“
„Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung?“ Sein Bruder zögerte und schaute erst auf Felix, dann auf das Wandbild. „Was ist denn das da?“ Er trat zu der Pfütze hin und musterte sie. „Was hast du hier gemacht?“
„Ja. Das ist die Frage. Ich weiß auch nicht genau, was das ist. Und nein, ich habe nichts gemacht.“ Felix’ Stimme zitterte merklich.
„Das Wandbild!“, stieß Laurin hervor. „Es ist das Wandbild, stimmt’s? Genau wie bei mir!“
Felix riss den Kopf hoch und starrte ihn an. „Bei dir auch? Was ist bei dir?“
„Du wirst lachen … aber es windet bei mir im Zimmer. Erst dachte ich, dass irgendwo ein Fenster offen steht. Es ist auch nicht stark … aber es ist so ein kalter Wind. Wie von einem Schneefeld.“
„Wie von den Bergen auf deinem Wandbild“, flüsterte Felix. „Laurin, das ist … unheimlich. Was machen wir jetzt? Sollen wir Mama Bescheid sagen?“
„Was wird sie uns sagen? Wie kann ein Bild zum Leben erwachen?“
„Und es wird jeden Tag schlimmer! Erst hab ich Geräusche gehört, so ein Plätschern! Gestern schon viel lauter, und heute finde ich diese Pfütze hier.“
„Guck mal“, Laurin berührte das Bild auf der Wand vorsichtig. „Die Wand ist nass. Das rinnt richtig heraus!“
„Echt jetzt?“ Felix trat neben ihn. „Puh, du hast recht. Ich hab Angst, Laurin! Was ist, wenn der Drache zum Leben erwacht?“
Laurin starrte ihn sekundenlang an, schluckte und sagte dann: „Und was ist, wenn mein Drache zum Leben erwacht? Ich glaube, das wäre wesentlich schlimmer!“
Eine Tür klapperte hörbar.
„Das ist meine Zimmertür! Der Wind, hörst du es?“
„Laurin!“ Die Panik ließ Felix’ Stimme zittern. „Lass uns Mama rufen! Sie hat das gemalt, vielleicht weiß sie auch, was da los ist!“
Doch dazu kam es nicht mehr. Aus dem Rinnsal, das aus Felix’ Zimmerwand geflossen kam, wurde urplötzlich ein Sturzbach. Wie aus einer geplatzten Leitung quoll es überall aus der Wand und überschwemmte den Boden.
„Oh meine Güte!“ Laurin kreischte, und Felix nicht minder. Ihre Füße standen schon knöcheltief im eiskalten Wasser und es rauschte wie am Meer. Kleine Wellen brandeten an Felix’ Bett und sie hörten aus dem Nachbarzimmer nicht mehr nur das Brausen des Windes, sondern auch hohe, spitze Schreie.
„Hilfe! Hilfe!“ Jemand schrie in höchster Not, und das mit einer Stimme, die Felix nur allzu vertraut war.
„Das ist Ricky!“, brüllte er gegen den Wind und die Wellen an. „Laurin! Das ist Ricky!“
Ein ohrenbetäubendes Grollen erscholl. Felix sah gerade noch, wie Laurins Gesicht aschfahl wurde, dann ging die Beleuchtung in seinem Zimmer aus.
Beide Jungen kreischten auf, dann fasste sich Laurin ein Herz und watete durch die Wassermassen in Richtung Zimmertür. „Wir müssen hier raus!“, schrie er. „Nach unten! Zu Mama und Papa! Wir müssen sie warnen und dann so schnell wie möglich abhauen! Felix, das war der Drache, der so gebrüllt hat! Wahrscheinlich hat er Ricky erwischt! Wenn wir nicht auf der Stelle hier verschwinden …“
Das spärliche Licht, das von den Straßenlaternen ins Zimmer drang, verblasste. Die Umrisse der Möbel und Wände waberten wie Nebelschleier und lösten sich auf.
Auch der Boden unter ihren Füßen schien immer mehr nachzugeben, und plötzlich hatte Felix das Gefühl, ins Wasser zu fallen. Es war kalt und salzig und er schrie vor Schreck. Sein Bruder nicht minder. Dann war da plötzlich keine Zimmerdecke mehr – über ihnen befand sich ein sternenklarer Nachthimmel, der von einem satten, prallen Vollmond erleuchtet wurde.
Felix prustete und rang nach Luft. Er hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, wusste nicht, wo oben und unten war und atmete prompt eine Ladung Meerwasser ein. Gottseidank trieb ihn ein gütiges Schicksal nach oben, und er konnte husten, husten, das ganze Wasser aushusten, das er unfreiwillig geschluckt hatte. Er trieb im Meer und machte hektische Schwimmbewegungen, um nicht erneut unterzugehen. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass sein Bruder neben ihm mit denselben Unannehmlichkeiten kämpfte.
Aber es war noch nicht vorbei. Ein gewaltiges Brausen erscholl in der Luft, und Felix sah einen dunklen, massigen Körper auf sich zurasen. Sein Herz setzte mehrere Schläge aus und er versuchte sich zu ducken, um nicht von dem gewaltigen Leib getroffen zu werden. Leider hatte er dabei immer noch nicht verinnerlicht, dass er sich im Meer befand, und geriet daher erneut unter Wasser. Ein riesiger Schatten zog dicht über ihn hinweg und Felix schrie aus vollem Hals. Unter Wasser erzeugte er natürlich nur einen Haufen Blubberblasen und keinen hörbaren Ton.
Wieder tauchte er auf und hustete sich die Seele aus dem Leib. Was war das gewesen? Er versuchte, die Kreatur auszumachen, die über ihn hinweggeflogen war. Er wusste, es konnte nur ein Drache gewesen sein.
Und tatsächlich, dort hinten, gegen den dunklen Horizont, flog ein Drache mit kräftigen Flügelschlägen.
„Coco!“, murmelte er und trat Wasser, um nicht unterzugehen. Er wusste, dass es Coco war, er erkannte ihn an seinen Umrissen. Etwas weiter weg von ihm schwamm Laurin und auch er hustete und prustete.
„Felix! Oh Gott, Felix, tauch! Duck dich!“, brüllte Laurin und fuchtelte mit den Armen, so gut es im Wasser eben ging. „Dort drüben!“
Felix riss den Kopf herum und erstarrte. Dort flog ein weiterer Drache im Sturzflug auf sie zu. Seine tückischen Augen funkelten im Licht des Mondes, seine Reißzähne blitzten und in einer Kralle trug er eine Last.
Ricky, dachte Felix schwach, noch bevor er die entsetzten Schreie des Jungen hörte, der wie in einem Schraubstock in der Kralle von Laurins schrecklichem Drachen gefangen war. Dann tauchte Felix unter.