Leseprobe „Die versteinerte Frau“

Zaubereien

Felix rannte die Treppe hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal, stolperte, fing sich gerade noch und hastete weiter. Als er über den Treppenabsatz flitzte, hätte er sich fast die Kante des Geländers in die Seite gerammt.

Noch bevor er durch Laurins Zimmertür stürmte, schrie er: „Laurin! Was ist passiert?”

„Schau dir das Bild an.” Laurin, Felix’ älterer Bruder, saß mit gerunzelter Stirn im Schneidersitz auf seinem Bett. Sein Blick war auf das von seiner Mutter gemalte Wandbild gerichtet. Ähnlich einer Fototapete überzog es die gesamte Wand.

Felix ließ seinen Schulranzen zu Boden fallen und hockte sich neben ihn. „Hm? Was soll daran so außergewöhnlich sein, dass du aus dem Fenster die halbe Nachbarschaft zusammenbrüllst? Da ist der Schwarze Lord drauf, das sehe ich. Und er scheint sich heute zu langweilen. Warum sitzt er denn mit so einer Miene neben Brurku auf einem Stuhl?”

„Mensch, guck doch mal richtig hin. Er hält ein Blatt in der Hand und da steht was drauf. Was sehr Beunruhigendes.”

Felix richtete sich auf und betrachtete das Bild genauer. Seit ihrem ersten Abenteuer in der Drachenwelt änderte sich das Wandbild täglich, allerdings immer in der Nacht, wenn sie schliefen. Noch nie hatte er den Bildwechsel beobachten können. Aber so neugierig er auch war, wie das funktionierte, eigentlich war es nicht so wichtig. Denn es war ungeheuer spannend, jeden Tag aufs Neue sehen zu können, was ‘ihre’ Drachen in der Drachenwelt so machten.

Brurku, der riesige schwarze Drache, war mit Laurin verbunden. Er konnte mit ihm sprechen, was sonst niemand außer dem Schwarzen Lord vermochte. Felix kniff die Augen zusammen. Ein bisschen seltsam war es ja schon, dass Alexander Graff, der Schwarze Lord, wie er dort genannt wurde, in der Drachenhalle auf einem Stuhl neben Brurku saß. Normalerweise betrat er den Saal, in dem die Drachen schliefen, fast nie.

Unbehaglich rieb sich Felix am Kinn. Dafür, dass Alexander der Herrscher über die Trutzenburg und das Taringerland war, wirkte er neben dem gewaltigen Drachen irgendwie so … winzig. „Tatsächlich, er hält ein Blatt in der Hand.”

„Geh mal näher ran. Man kann es lesen, wenn man ganz nah an der Wand steht.”

Er befolgte Laurins Ratschlag und entzifferte mit einiger Mühe:

Laurin, es ist nötig, dass du kommst. Benutze bitte in der nächsten Vollmondnacht Alexas Spiegel. Das Tor wird sich wie gewohnt im Süden öffnen. Ich schicke Brurku, um dich abzuholen. Alexander

Felix’ Augen wurden riesengroß. „Das gibt es doch nicht! Er hätte wenigstens schreiben können, warum du kommen sollst!”

„Ich schätze mal, er konnte es nicht auf das Blatt Papier draufkriegen. Er musste extra groß schreiben, dass wir es lesen können.”

„Er hätte ja zwei Blätter benutzen können!”

Laurin stutzte. „Ja, klar. Aber denk doch mal nach! Damit er sicher sein konnte, dass er auf meinem Wandbild abgebildet wird, muss er den ganzen Tag neben Brurku verbringen. Das Wandbild zeigt doch immer nur das, was Brurku macht. Willst du den ganzen Tag zwei Blätter hochhalten? Das ist schon mit einem Blatt anstrengend. Ich fürchte, es müssen sehr schlechte Nachrichten sein, wenn er einen ganzen Tag unbeweglich auf dem Stuhl verbringt. Und Brurku konnte sich ja auch nicht wegbewegen.”

„Hm. Stimmt. Das wird Brurku echt schwergefallen sein. Vielleicht durfte auch niemand anderes davon wissen”, sinnierte Felix den Gedanken weiter. „Sonst hätte er ja Ludik hinsetzen können. Oder Pess, oder Tinni.”

„Genau. Das beunruhigt mich wirklich. Die beiden gucken auch echt übel gelaunt. Wann ist Vollmond, Felix?”

Seit Felix begriffen hatte, dass sich die Tore in die Drachenwelt immer an Vollmond öffneten, hatte er einen Mondkalender in seinem Zimmer hängen. Man wusste ja nie, wann man solche Informationen brauchen konnte. Er rannte in sein Zimmer, und als er wieder zurückkam, rief er: „Der Mond nimmt zu und in fünf Tagen ist Vollmond.”

„In fünf Tagen schon!” Laurin kniff grimmig die Augenbrauen zusammen, während Felix mit dem Mondkalender in der Hand erbleichte.

„Du willst doch nicht wirklich gehen, Laurin”, flüsterte er, doch dann presste er resigniert die Lippen zusammen. „Natürlich werden wir gehen. Das ist mir klar. Wir können Alexander nicht im Stich lassen.”

„Wir?” Laurin hob den Kopf. „Willst du denn mitkommen?”

„Na klar.” Felix fühlte sich bei weitem nicht so sicher, wie er tat, aber kneifen kam nicht in Frage. Was erwartete sie da in der Drachenwelt? Bestimmt ein neues, gefährliches Problem. Sein Herz fing verräterisch an zu klopfen. Okay, all ihre bestandenen Abenteuer waren jedes Mal gut ausgegangen, aber wer sagte denn, dass das immer so blieb? Er seufzte. „Und Alexa wird es sich auch nicht nehmen lassen, mitzukommen. Schließlich sollst du ihren Spiegel benutzen, um durch das Tor zu gehen. Sie wird nie zurückbleiben.”

„Stimmt.” Laurin grinste.

„Und unsere Eltern? Sollen wir sie dieses Mal einweihen?”

„Bist du verrückt geworden? Die lassen uns nie fort! Weißt du nicht mehr, wie sie getobt haben und unsere Wandbilder übermalen wollten, damit sich der Durchgang nur ja nicht mehr öffnet? Nein, das geht auf keinen Fall. Wir werden einfach wieder die Methode anwenden, die uns Alexander gezeigt hat. Wenn wir beim Zurückgehen ganz fest an den Zeitpunkt denken, an dem wir in die Drachenwelt hinübergegangen sind, kehren wir auch zu diesem Zeitpunkt zurück. Das hat doch letztes Mal wunderbar geklappt.”

Felix nickte zögernd. „Das stimmt”, räumte er ein. „Tatsächlich sind wir wieder im Ferienlager gelandet. Aber was ist, wenn es aus irgendeinem Grund doch nicht funktioniert? Lass uns wenigstens einen Brief schreiben, damit sie sich nicht beunruhigen. Und wenn wir zum gleichen Zeitpunkt wieder zurückkehren, können wir den Brief ja einfach vernichten.”

„Na schön. Das klingt vernünftig. Aber Felix, beunruhigen werden sie sich auf jeden Fall, auch wenn sie einen Brief lesen.”

„Ja, aber wenigstens wissen sie, wo wir sind.”

„Gut. Dann sagen wir Alexa Bescheid.”